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Käpt’n Igor



Es wehte ein angenehmes Lüftchen an diesem Sommertag, so dass Igor Igel die hohen Temperaturen heute gut aushalten konnte. Bestes Wetter und trotzdem nicht zu heiß. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich einen faulen Tag zu gönnen. Also einmal rein gar nichts zu tun. Aber irgendwie hatte Igor heute die sprichwörtlichen Hummeln im Hintern: Er konnte einfach nicht stillsitzen, obwohl er es wirklich versuchte.

Normalerweise war er der Gemütlichste in seiner ganzen Clique. Aber heute lagen seine Freunde Ferdinand Fischadler, Lasse Laubfrosch, Henriette Hase, Nils Nachtpfauenauge und Frieda Fuchs seelenruhig am Teich in der Nähe von Ferdinands Horst, während Igor unruhig daneben saß.
Die beiden Mädels bräunten sich in der Sonne und nippten ab und zu an ihren Gläsern mit einer seltsamen, grell rosafarbenen Limo – mit bunten Schirmchen.

Lasse lehnte an einer Weide, seinen Hut tief ins Gesicht gezogen, und kaute auf einem Grashalm herum. Daneben spielten Ferdinand und Nils ein Kartenspiel, für das zu viel taktisches Geschick nötig war, um Igor begeistern zu können. Igor wunderte sich über sich selbst. Seufzend stand er auf und sagte: „Leute, ich geh mal ein Stück.“ Ferdinand nickte, ohne von seinen Karten aufzublicken. Von Nils kam ein kurzes „Mmm“. Frieda winkte mit geschlossenen Augen und ohne sich ansonsten zu bewegen von ihrer Matte herüber. Lasse und Henriette schienen ihn gar nicht gehört zu haben. Also drehte sich Igor um und machte sich auf die Suche nach einem Abenteuer.

Zuerst wollte er mal kurz nach Hause hinübergehen und sich etwas zum Lesen holen. Dann überlegte er es sich jedoch anders. „Wahrscheinlich habe ich dazu sowieso nicht die nötige Ruhe“, dachte Igor. Er bog also auf den Rundweg um den Teich ab. Dieser Weg würde ihn nach etwa einer Stunde zurück an den Platz führen, an dem er seine Freunde zurückgelassen hatte. Igor ging flotten Schrittes drauflos.

Am Bootssteg lag ein kaputtes Ruderboot, halb voll Wasser gelaufen. Eine Entenfamilie, die Igor kannte, und einige andere Badegäste verschafften sich hier Abkühlung, indem sie vom Bootsrand und vom Steg aus immer wieder im hohen Bogen ins kühle Nass sprangen. Als Igor vorbeikam, winkte er der Entenmutter, die aufmerksam Wache über ihre Jungen hielt, kurz zu, ohne dabei seinen Schritt zu verlangsamen. Als er durch die Bäume am Ufer hindurch die Seeroseninsel im Teich schwimmen sehen konnte, hielt er kurz an, um sich die weißen Blüten anzusehen. Lange hielt es ihn aber auch hier nicht.




Als Igor schon mehr als die Hälfte des Weges um den Teich herum geschafft hatte, sah er zwischen den tief über dem Wasser hängenden Zweigen einer Weide etwas herumschwimmen, das er nicht sofort erkennen konnte. Er blieb stehen und suchte sich einen langen, halbwegs geraden Ast, mit dem er danach angeln und es ans Ufer ziehen konnte. Nicht ganz leicht ließ sich das Ding aus dem Wasser fischen, so dass Igor es aus der Nähe betrachten konnte. Es war eine alte Kapitänsmütze, die jemandem ins Wasser gefallen sein musste.

„Vielleicht“, so überlegte Igor, „hat ein echter Kapitän sie verloren und der Wind hat sie übers Wasser hierher getrieben, wie eine Nussschale auf dem Wasser dümpelnd, bis sie sich hier in den Weidenzweigen verfangen hat.“ Die Kapitänsmütze war so groß, dass sie für Igor nicht als Mütze, sondern vielmehr als Boot taugte. „So komme ich doch noch zu meiner Bootstour!“, dachte Igor – erfreut, dass er endlich ein Abenteuer gefunden hatte. „Immerzu kommt man am Bootssteg vorbei und nie ist ein brauchbares Boot zu finden. Zumindest nicht brauchbar für Igel.

Endlich hab ich eins gefunden! Mein eigenes Boot!“ Schon schob Igor die Kapitänsmütze, sein Boot, wieder ein Stückchen weiter aufs Wasser, schwang sich hinein und stieß sich mit dem Ast, den er zuvor dazu benutzt hatte, die Kapitänsmütze aus dem Wasser zu ziehen, vom Ufer ab. Keine Sekunde überlegte er, ob die Mütze überhaupt stabil und dicht genug war, um ihn zu tragen. Tollkühn und rastlos wie er heute war, verschwendete Igor keinen Gedanken an Lecks und Sickerwasser. Wie ein Gondoliere in Venedig stand er an Bord seines Bootes, stakte es voran und jodelte schräg ein kleines Lied, von dem er meinte, dass es so oder ähnlich wohl in den Gondeln von Venedig gesungen würde.

Als er zwischen den Weidenzweigen heraus auf die offene Wasserfläche des Teiches gelangte, wurde es leichter, das Mützen-Boot voranzustoßen. Igor fand heraus, dass sein Ast zum Glück immer noch lang genug war, um damit den Grund des Teiches zu erreichen. Und als Igor nun – etwas spät – einfiel, dass ein Boot ja theoretisch auch undicht sein könnte, stellte er außerdem fest, dass die Mütze das Wasser gut genug abhielt, um damit einige Zeit auf dem Teich herumzufahren. „Ich könnte ja mit meinem Boot zu meinen Freunden zurückfahren“, kam es Igor in den Sinn: „Die werden Augen machen!“ Mit einem kräftigen Stoß gab er der Mütze Schwung genug, damit er sich eine Weile ausruhen konnte. Die Mütze glitt von allein weiter über den Teich und wurde nur ganz allmählich langsamer.




Igor blickte in die Runde und genoss das glitzernde Licht auf der Wasseroberfläche, die summenden Insekten in den Ufergebüschen und vor allem den tollen Rundblick, der sich ihm bot. Von seinem Boot aus konnte er den ganzen Teich überblicken. Die Enten am Steg, die Seeroseninsel, einfach alles. Igor freute sich ganz einfach, dass Sommer war. „Sommer ist eine schöne Jahreszeit für einen Kapitän!“, stellte Igor fest. „Käpt’n Igor!“, sinnierte er und machte es sich an Bord seines Bootes bequem.

Als er sich gerade hingesetzt hatte, merkte er auch schon, dass er einen nassen Hintern bekam. Sofort sprang er wieder auf die Beine und schaute entsetzt zurück auf die Stelle, an der er eben gesessen hatte. Durch viele kleine Löcher quoll rasch Wasser ins Boot. Mit seinen Igelstacheln hatte Igor das dünne Tuch der Mütze durchstochen und nun drohte es zu sinken. „Oh nein!“ japste Igor. Die Kapitänsmütze lief unheimlich schnell voll und mit einem lauten Platsch landete Igor auch schon im Wasser.

Leider hatte Igor nie Lust gehabt, richtig schwimmen zu lernen. Er hielt sich gerade so über Wasser. Mit seiner blauen Latzhose war es jetzt aber noch viel schwieriger, mit dem Kopf über der Wasseroberfläche zu bleiben. Igor strampelte sich ab, schluckte Wasser und geriet allmählich in Panik. Er dachte schon, er würde es nicht schaffen. Da spürte er, wie etwas unter ihn schwamm und ihn hochdrückte, so dass er wieder gut Luft bekam. Igor konnte in dem etwas trüben Teich nicht sehen, wer oder was es war, das ihn geradewegs zum Ufer manövrierte und ihm damit höchstwahrscheinlich gerade das Leben rettete. Erst als er wieder Boden unter den Füßen hatte und sich im flachen Wasser stehend umdrehte, erkannte er seinen Retter. Ein Karpfen war es.

Der Fisch schwamm nun an die Oberfläche und mit seinem breiten Maul sagte er zu Igor: „Na? Du hast aber auch noch keinen Schwimmkurs bei mir belegt, was?“ „Nein“, gab Igor verlegen zu, „ich dachte immer, für ein bisschen Planscherei reicht es. Aber da hab ich mich wohl getäuscht. Tausend Dank für deine Hilfe! Das war Rettung in letzter Sekunde. Viel länger hätte ich es nicht ausgehalten.“ „Das habe ich glücklicherweise ja gesehen. Du solltest dir mal überlegen, ob du nicht schwimmen lernen willst. Ich hab noch jeden dazu gebracht, dass er einmal quer durch den Teich ans andere Ufer schwimmen konnte“, antwortete der Karpfen. Igor fragte verwundert: „Bist du Rettungsschwimmer?“ „Nee“, lachte der Karpfen vergnügt, „Rettungsschwimmerin! Ich heiße Krissi Karpfen. Eigentlich Kristina, aber das ist mir zu lang.“ „Oh, ‘tschuldigung! Ich wusste nicht…“, begann Igor.

Aber Krissi unterbrach gleich: „Nicht so wild! Bei Karpfen kann man das halt nicht so einfach unterscheiden. Zumindest wenn man nicht selber Karpfen ist.“ „Ich bin Igor“, stellte sich Igor höflich vor. „Angenehm, Igor!“ sagte Krissi: „Also, ich bin hier im Teich Schwimmlehrerin und Rettungsschwimmerin in einer Person. Wenn du’s also lernen willst,…?“ Sie beendete den Satz nicht. Aber Igor wusste auch so, was sie meinte. „Ja, auf jeden Fall“, antwortete Igor. „Ordentlich schwimmen zu lernen scheint ja doch ziemlich wichtig zu sein.“ „Lebenswichtig!“, ergänzte Krissi Karpfen munter. Dann fielen ihre Fischaugen auf etwas am Ufer und sie sagte schnell: „Oh, ich muss weg! Da kommt Tomi der Teichwirt. Der darf mich nicht erwischen! Also tschüss bis bald, Igor!“ Das Letzte rief sie nur noch so eben über die Schulter und schon war sie im trüben Wasser verschwunden. „Tschüss, Krissi!“, rief Igor ihr hinterher, war sich aber nicht sicher, ob sie es überhaupt noch hörte: „Und nochmal vielen Dank!“ Eilig machte sich Igor, triefnass wie er war, auch davon. Denn dem Teichwirt wollte auch er nicht allzu nahe kommen. Nicht dass Tomi der Teichwirt ein schlimmer Mensch gewesen wäre. Aber trotzdem folgt man besser seiner Igelnatur und macht sich davon, wenn sich große Gummistiefel nähern. So schnell er in seinen nassen Sachen konnte, rannte Igor zu seinen Freunden zurück.




Die lagen immer noch faul in der Sonne und hatten nichts mitbekommen, wie Igor feststellte. Als er angerannt kam, sahen sie alle auf und drehten sich verwundert zu ihm um. Vielleicht hätte er seinen „kleinen Unfall“ mit dem Mützen-Boot gerne vor ihnen verheimlicht, aber es war leider nicht zu übersehen, dass er baden gegangen war. „Was hast du denn gemacht?“, fragte Henriette entgeistert. Und so musste Igor seine Geschichte notgedrungen erzählen, während er sich mit einem Handtuch, das Lasse ihm reichte, abtrocknete. Als er geendet hatte und seine Freunde anschließend allesamt dazu verpflichten wollte, mit ihm bei Krissi Karpfen zum Schwimmkurs zu gehen, sagte Frieda lachend: „Aber Igor! Du bist doch eben kein Wassertier!“ „Also, ich brauche jawohl nicht schwimmen zu lernen“, wand sich Ferdinand aus der Affäre: „Ich kann schließlich fliegen. Lufttiere sind eben in vielen Dingen besser dran.“

Dann überlegte er kurz und setzte fort: „Diese Krissi allerdings, die sollte ich mir mal angucken. Nicht, dass ich sie aus Versehen mal fange! Wo sie dich doch gerettet hat.“ „Und was ist mit dir, Lasse?“, fragte Igor: „Kommst du wenigstens mit zum Schwimmkurs?“ „Klar, Igor. Ich kann zwar schon schwimmen. Schließlich war ich früher mal ein Wassertier. Aber ich komm‘ trotzdem mit.“ „Ich auch“, riefen Frieda und Henriette beide. „Dann kommen Ferdinand und ich auch mit. Zum Zugucken. Die Show lassen wir uns nicht entgehen, oder?“, fragte Nils an Ferdinand gewandt.

Der nickte und fragte dann Lasse: „Wie? Du warst mal ein Wassertier?“ „Ja, klar. Als Kaulquappe! Oder weißt du etwa nicht, dass Frösche ihren Laich ins Wasser legen?“, fragte Lasse verwundert. „Und Laich sind sozusagen die Eier, oder wie?“, fragte Ferdinand sichtlich verwirrt. „Ja“, sagte Frieda und schaltete sich ein: „Aus den Eiern schlüpfen dann die Kaulquappen. Die leben zuerst im Wasser. Sobald ihnen Beine und Arme gewachsen sind, gehen sie an Land. Obwohl sie danach Landtiere sind, bleiben sie dem Wasser immer sehr verbunden und kehren immer wieder zurück.“ „Genau!“, sagte Lasse, „Eigentlich sind wir also beides, Wassertier und Landtier.“ Nachdem das geklärt beziehungsweise erklärt war, trat eine kurze Stille ein.


Nils unterbrach die Stille und fragte neugierig: „Und diese Krissi? Ist die nett?“ „Ich hab die Idee!“, platzte Frieda heraus und schlug vor: „Los, lasst uns gleich mal hinübergehen. Dann können wir alle Krissi kennenlernen.“ Plötzlich kam Bewegung in Igors Freunde und sie machten sich auf den Weg.

Müde schlappte Igor hinterher. Den ganzen Tag hatte er Hummeln im Hintern gehabt, während die anderen faulenzen wollten. Und jetzt, da es endlich Action gab, war er völlig geschafft von seinem Abenteuer als Käpt’n Igor. „Uff!“, schnaufte Igor leise. Er ging aber trotzdem noch einmal mit zu Krissi.

Ina Wosnitza
Naturschutz & Naturparke, Heft 223
Mitgliederzeitschrift des Vereins Naturschutzpark e.V. (VNP)
>www.verein-naturschutzpark.de



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